Fünf Tage lang hautnah miterlebt: die Entstehung des besten Wagens der Welt
Wie alles begann . . . oder ein Traum wird wahr
Eigentlich rein zufällig beim flanieren in Bern's Altstadt entdeckte ich im Februar 1996 in der Aussenablage bei einer der zahlreichen Uhrenboutiquen, einen Werbeprospekt von einer grossen Uhrenfirma in Biel. (Um hier keine Schleichwerbung zu machen, verzichte ich darauf den Namen TISSOT zu erwähnen.) Offenbar handelte es sich um einen Wettbewerb, bei dem man sich ohne irgendwelche Einschränkungen seinen Traumberuf wünschen konnte. Schnell war mir als langjährigem Rolls-Royce-Enthusiast klar, dass das irgend etwas mit Rolls-Royce zu tun haben sollte. Und aus Gründen der Originalität stand schliesslich auf meiner Wettbewerbskarte: Werksmitarbeiter bei Rolls-Royce in England.
Die Tage vergingen und als ich bereits nicht mehr daran dachte erhielt ich plötzlich am 17. April 1996 einen Telefonanruf der betreffenden Uhrenfirma. Mein Vorschlag wurde - mit vier anderen - als einer der originellsten aus über 10'000 Einsendungen ausgewählt.
In den folgenden Wochen bemühten sich schliesslich eine Werbeagentur gemeinsam mit einem Reisebüro darum, Kontakt nach England herzustellen und abzuklären, ob mein Wunsch überhaupt in Erfüllung gehen konnte. Nachdem das Okay aus England eintraf einigte man sich auf das Reisedatum vom 11. bis zum 18. August 1996.
Inzwischen hatten sich bereits ein Herr Angelo di Martino, Filialleiter einer Rolls-Royce-Vertretung in Basel und Herr Thomas Kohler, Journalist der SCHWEIZER WOCHE gemeldet, die mich bei meiner England-Reise begleiten wollten. So harrte ich dann der Dinge, die da kommen sollten . . .
Der 1. Tag: das Abenteuer Beginnt
Auf das anhaltend schöne Sommerwetter folgte jetzt - pünktlich auf meinen Reisetermin - eine nasskalte und stürmische Schlechtwetterperiode, wie man sie bei uns sonst nur im Spätherbst erleben kann. Ich fuhr also im Regen nach Basel, wo ich im Euro-Airport die Herren Kohler, Di Martino und Coppola traf; letzterer ein Bekannter von Herrn Di Martino, der sich ebenfalls für die Rolls-Royce-Werke interessierte.
Mit kurzer Verzögerung flog unsere Vierergruppe mit einer Saab 2000 Concordino der Crossair Richtung Nordwesten über den Kanal. Der Flug verlief zwar ohne irgendwelche Komplikationen oder Zwischenfälle, wird sich mir aber dennoch tief im Gedächtnis eingraben, da es sich um meinen Erstflug handelte. Nach gut zwei Stunden Flugzeit tauchte die Maschine durch die Wolkenbänke ab und setzte zur Landung in Manchester an. Ueberraschenderweise vergingen dort kaum fünf Minuten zwischen Flugzeug Verlassen, Passkontrolle und Gepäckrückgabe.
Vor dem Flughafen wartete bereits ein Chauffeur von Rolls-Royce, der unsere Gruppe in einem Bentley Turbo R nach Crewe in ein komfortables mittelklass-Hotel namens "The Hunters Lodge" brachte. Auch hier verdunkelten Regenwolken den Himmel und ein paar vorwitzige Tropfen klatschten auf den Boden.
Nach dem Zimmmerbezug benutzten wir schliesslich den Rest des Tages dazu, um uns gegenseitig näher kennenzulernen. Natürlich wurde dabei auch die hoteleigene Bar genauer inspiziert.
Der 2. Tag: Die Tore der "heiligen Hallen" öffnen sich
Frühmorgens, nachdem einige Unklarheiten beseitigt waren, konnten wir den reservierten Mietwagen, einen Rover 400, in Empfang nehmen. Dieser brachte uns bei strahlendem Sonnenschein sehr bequem bis vor das riesige Entrée eines noch grösseren Gebäudekomplexes, dessen ziegelrote Backsteinmauern man schon von weitem im Sonnenlicht glänzen sah. Nur schon die Aussenansicht allein ist sehenswert.
Nicht ohne Stolz schritt ich schliesslich die Stufen zum Eingangsportal hinauf und genoss erst einmal das Gefühl, als Gast im Hause Rolls-Royce empfangen zu werden. Bei Kaffee und Gebäck wurde unserer kleinen Gruppe das Wochenprogramm in groben Zügen vorgestellt und nach ein paar anfänglichen Worten zur Fabrik führte man uns mit fachkundiger Leitung in einer ca. drei Stunden dauernden Tour durch den ganzen Produktionsbetrieb und brachte uns die verschiedenen Arbeitsbereiche näher. Nach einem üppigen, von Rolls-Royce gesponsertem Mittagsmahl in der Kantine durfte ich mich schliesslich als "special guest" in das "Brightware Department" begeben und dort - in der Verchromerei - hautnah miterleben, wie Rolls-Royce- und Bentley-Kühlergrille, Flying Ladies, Badges und andere Zierteile bearbeitet, zusammengebaut, verchromt und poliert werden. Alles in allem vier sehr interessante, lehrreiche und vor allem auch lockere Stunden, in denen sich manches Gespräch ergab und bereits einige freundschaftliche Kontakte mit den Arbeitern des "Radiator-Team's" geknüpft werden konnten.
Selbstverständlich liess ich es mir nicht nehmen, bereits hier von den Arbeitern einige auserlesene Erinnerungsstücke schenken zu lassen. Bis zum Ende der Woche werde ich dann meinen eigenen Rolls-Royce möglicherweise aus all den erhaltenen Einzelteilen selbst zusammenbauen können.
Den Abend verbrachten wir vier schliesslich wieder gemeinsam in einem schmucken Ristorante in Sandbach unweit von Crewe, wo sehr gute italienische Spezialitäten aufgetischt wurden.
Der 3. Tag: Die ersten Handgriffe auf der Produktionsstrasse
Auf dem heutigen Arbeitsplan stand eigentlich die Mitarbeit im "Trimshop", der Lederverarbeitung und Polsterei. Zuerst mussten allerdings in einem aufwendigen, dreistündigen Photo-Shooting die Bilder für die geplante Reportage aufgenommen werden. Nichts desto trotz blieb Nachmittags noch reichlich Zeit, in der ich unter anderem fast selbständig Teile für Sitzbezüge aus feinstem Connolly-Leder ausstanzen und sogar einen Lederkranz für ein Bentley-Steuerrad mit Nadel und Faden montieren und zusammennähen konnte. Und das waren selbstverständlich alles Teile die für die laufende Produktion weiterverwendet wurden!
Was würde der Kunde wohl sagen, wenn er wüsste, dass sein Steuerrad von einem "gewöhnlichen", Rolls-Royce-begeisterten Studenten genäht wurde! (Es ist übrigens ein wohlhabender Geschäftsmann in Malaysia.)
Heute wurde mir auch des öfteren klar, wie sich Rolls-Royce redlich bemüht hatte, mir eine unvergessliche Woche zu bereiten: während des ganzen Tages kamen irgendwelche Führungen vorbei, bei denen Kunden oder Händlern die Produktion gezeigt wurde. Diese Leute gingen jedoch alle an den vorgeschriebenen Wegen entlang und bekamen ausser den vielen Erklärungen praktisch keine Arbeit so richtig zu sehen. Ich dagegen genoss die sprichwörtliche "Narrenfreiheit", indem ich mich in der ganzen Halle frei bewegen durfte und nach Lust und Laune mit den Leuten plaudern, mir spezielle Sachen zeigen und erklären lassen und eben sogar selbst Hand anlegen konnte. Ueberall wurde ich sehr herzlich empfangen und Niemand störte sich daran, dass ich eigentlich gar kein richtiger Angestellter von Rolls-Royce war. Ich zog einfach einen Arbeitskittel an und nachdem ich den Team-Mitgliedern vorgestellt war arbeitete ich mit ihnen zusammen - natürlich im Rahmen meiner Möglichkeiten - genauso wie wenn ich schon immer dazugehört hätte.
Zum Abschluss dieses Arbeitstages hatte ich sogar die Gelegenheit, sehr ausführliche Gespräche mit den Arbeitern in der Entwicklungsabteilung des Trimshops zu führen. Dazu möchte ich nur folgendes sagen: RESTRICTED AREA! Versprochen ist versprochen (und dann ist es erst noch ein unwahrscheinlich befriedigendes Gefühl ein wenig mehr als andere zu wissen).
Am Abend leistete uns der Rover auf unserer Suche nach interessantem Nightlife wertvolle Dienste, da wir sonst unweigerlich zu Fuss nach Chester hätten gehen müssen. Allerdings war es dann auch schon weit nach Mitternacht, als wir wieder den Weg zurück nach Crewe einschlugen.
Der 4. Tag: Von Mahagoni, Walnuss und Eiche
Der heutige Tag stand ganz im Zeichen des Holzes. Ich konnte einen vollen Arbeitstag im "Wood Shop" verbringen, wo mir unter anderem beigebracht wurde, wie man Zierleisten klebt, lackiert, schleift und schliesslich poliert. Leider konnte ich das Endresultat meiner morgendlichen Arbeit nicht mehr bewundern, da "meine" geschnittenen Mahagoniblätter direkt in der Presse verschwanden. Jedoch gemäss Aussagen des Team-Leader's waren sie soweit in Ordnung, dass man sie ohne Probleme zur Verkleidung zweier Türleisten verwenden konnte, denn ich hatte es sogar - mit einiger Anstrengung - geschafft, zwei spiegelbildlich absolut identische Stücke zu produzieren!
Nachmittags stand ich schliesslich, nur mit einem Stück Schleifpapier bewaffnet, für längere Zeit an der Werkbank und konnte versuchen, ein Stück eines fertig lackierten Armaturenbrettes spiegelglatt zu schleifen um es dann auf Hochglanz polieren zu können. Bei dieser Arbeit war mir allerdings kein so grosser Erfolg beschieden, da mir das nötige Augenmass und die Uebung fehlte, auch kleinste Unebenheiten im Lack erkennen zu können. So musste ich schliesslich nach knapp einer Stunde mitansehen, wie ein anderer Arbeiter mit geübter Hand innert kürzester Zeit meine nicht entdeckten Lackfehler wegzauberte, sodass das kostbare Stück trotzdem auch noch in gewohnter Qualität poliert werden konnte.
Am interessantesten war es dann aber doch zu versuchen weitere mehr oder weniger vertrauliche Informationen im "Development Area" zu erhalten, was mir auch - eigentlich ungewöhnlich leicht - gelang. Jedenfalls konnte ich einen Blick auf Zeichnungen, Photos und Modellaufbauten werfen, die sehr vielversprechend aussahen. Der Fortbestand der Marke scheint also gesichert zu sein. ABER HALT!! Eigentlich habe Ich bereits jetzt schon zuviel darüber gesprochen.
Nach der Arbeit hatte ich dann endlich einmal genügend Zeit, Crewe mit dem Taxi auf eigene Faust ein wenig kennenzulernen, da sich meine Begleiter in Manchester aufhielten, wo sie den mitgereisten Journalisten in Richtung Heimat verabschiedeten.
Der 5. Tag: Im "Schatzkästlein" von Rolls-Royce
Noch bevor ich überhaupt das Gebäude von Mulliner Park Ward betreten hatte, ertönte bereits die Alarmsirene. Offenbar hatte jemand vergessen seinen Badge einzulesen, bevor er die Türe öffnete. In diesem Gebäude werden nämlich die am besten gehüteten Geheimnisse von Rolls-Royce aufbewahrt. Nachdem auch ich mit einem "Visitor's Badge" ausgerüstet worden war, konnte ich einen Blick auf die Produktion der aktuellen Park Ward Limousine und einigen Spezialanfertigungen werfen, die ebenfalls bei Park Ward gebaut werden. Leider durfte ich trotz mehrmaligem Nachfragen nicht in eine weitere Sicherheitszone vordringen, wo die etwas ausgefalleneren Modelle und die sogenannten "Concept Car's" stehen.
In dem Bereich wo ich mich aufhalten durfte, wurde am häufigsten an einer leicht veränderten Innenausstattung gebastelt. So wurde zum Beispiel einem Bentley eine etwas leistungsfähigere Stereoanlage eingebaut, einem anderen musste ein Kühlschrank und grössere Klapptische eingepasst werden oder einer neuen Park Ward Limousine musste sogar das Dach um ca. 10 cm angehoben werden, da der zukünftige Besitzer seinen Hut auch gerne im Auto trägt. Dank meiner Beharrlichkeit wurde schliesslich auch extra für mich eine verlängerte Limousine, die ein paar bemerkenswerte aber geschickt versteckte Merkmale aufwies, aus der verbotenen Sicherheitszone gefahren. Allerdings musste ich den Arbeitern versprechen niemandem die Geheimnisse dieser dunkelblauen Limousine zu erzählen.
Trotz all der Vorsicht seitens der Firma ist es mir aber dennoch gelungen, durch ein "Hintertürchen" einen kurzen Blick auf einige sehr spezielle Fahrzeuge zu werfen. So sah ich unter anderem einen dunkelgrünen, technisch leicht modifizierten Bentley, der es mit jedem Ferrari aufnehmen könnte oder ein anderes extravagantes "Fahrzeug" mit Spezialdesign, über das ich hier keine weiteren Worte verlieren möchte - und darf. Beide Wagen werden mit Sicherheit niemals in der Oeffentlichkeit zu sehen sein. Man wird offiziell nicht einmal wissen, dass sie überhaupt existieren. Beide wurden sie nämlich nur gebaut, um in der Privatsammlung irgendwelcher reichen Menschen Unterschlupf zu finden.
Den Nachmittag verbrachte ich dann unter anderem damit, bei einer auslieferungsfertigen Park Ward Limousine mitzuhelfen das Glasdach auszuwechseln, nachdem dieses über Nacht aus irgendwelchen Gründen gebrochen war. Obwohl das Fahrzeug gemäss Zeitplan eigentlich schon fast beim Kunden hätte sein sollen, liessen sich die Arbeiter überhaupt nicht hetzen. Hier wurde jeder Handgriff mit stoischer Ruhe und so gewissenhaft ausgeführt, dass es schliesslich Abend wurde, bis das Glasdach wieder perfekt an der vorgesehenen Stelle sass. Und nachdem die Qualitätskontrolle den ganzen Wagen geprüft hatte, wurde aufgrund einiger kleiner Lackschäden entschieden, die Limousine nochmals im "Paint-shop" überarbeiten zu lassen. Der Kunde wird sich also noch etwas gedulden müssen.
Abends gab es dann wieder einmal mehr italienische Küche in einem Ristorante in Nantwich. Spätestens jetzt machten sich die südländischen Wurzeln meiner beiden Begleiter bemerkbar.
Der 6. Tag: Das Finale
Da das Werk am Freitag jeweils um zwölf Uhr schliesst, blieben mir gerade noch vier Stunden, die ich in der "School of Instruction" verbringen konnte. Heute war ein eigentlicher Glücksfall für mich, da offiziel keine Kurse abgehalten wurden, aber trotzdem vier Instruktoren anwesend waren. Diese konnten mir dank der zur Verfügung stehenden Zeit recht viel erzählen. Nach einer kurzen Erklärung über den Aufbau und die Durchführung der angebotenen Lehrgänge wurde speziell für mich ein kleines Kursprogramm zusammengestellt, in dem ich einiges über die Motorelektronik und die automatisierte Fehlerdiagnose der neueren Modelle lernen konnte. Dabei hatte ich sogar die Gelegenheit, mein neu erworbenes Wissen gleich mit dem Kleincomputer in der Hand an einem neuen Bentley Turbo R auszuprobieren.
Nach einem kurzen Abschiedszeremoniell und mit den Taschen voller Souvenirs verliess ich schliesslich mit einem Blick zurück diese faszinierende Fabrik in der Hoffnung, in ein paar Jahren zurückzukehren um mich persönlich über den Fertigungsstand meines eigenen Wagens zu informieren.
Am freien Nachmittag fuhren wir nach Stoke-on-Trent um uns im Stadtzentrum ein wenig die Füsse zu vertreten und die Atmosphäre einer englischen Grossstadt zu geniessen. Für das Nachtessen kehrten wir schliesslich wieder nach Crewe zurück, wo im Hotel ein festliches Gala-dinner serviert wurde.
Der 7. Tag: Die Müdigkeit breitet sich aus
Schon in der Bibel steht geschrieben: am siebten Tage sollst du ruhn. Ganz nach diesem Motto gingen wir den Morgen etwas gemütlicher an, indem wir ein wenig im Stadtzentrum von Crewe umherflannierten und die geschäftige Atmosphäre auf dem Marktplatz und im Ladenviertel genossen. Nachmittags führte uns schliesslich unsere schon die ganze Woche andauernde Suche nach Flohmärkten und Antiquitätenläden via Zwischenhalt in Stoke-on-Trent nach Leek, wo wir auch tatsächlich auf einen kleinen Trödlermarkt stiessen. Wäre in dieser Woche etwas mehr Kleingeld übrig geblieben, hätte ich mir dort sogar eine echte Flying Lady aus den zwanziger Jahren kaufen können!
Der 8. Tag: Goodbye England
Nachdem wir uns alle bereits frühmorgens von unseren Suiten getrennt hatten, fuhren wir mit dem Rover nochmals nach Chester, wo wir trotz dem Sonntag in der Ladenstrasse unser übriggebliebenes Geld loswerden konnten. Nachmittags holte uns wieder ein Chauffeur von Rolls-Royce, mit dem selben Bentley wie eine Woche zuvor, vor dem Hotel ab und brachte uns fast lautlos dahinschwebend nach Manchester zurück.
Am Flughafen mussten wir dann ein wenig warten, bis wir endlich mit ein paar Minuten Verzögerung starten konnten. Ohne irgendwelche besondere Vorkommnisse - wenn man von einem phantastischen Sonnenuntergang, in zehn Kilometer Höhe miterlebt, absieht - trug uns die Concordino der Crossair sicher nach Basel zurück, wo uns bereits die Angehörigen zurückerwarteten. Nach der allgemeinen Verabschiedung trennte man sich schliesslich um wieder, jeder um einige Erfahrungen und Erlebnisse reicher, seinen gewohnten Arbeitsalltag aufzunehmen.
Allen Beteiligten, die irgendwie dazu beigetragen haben, mir eine unvergessliche Woche zu bereiten, sei hier nochmals herzlich gedankt.